Supply Chains müssen so perfekt wie ein Schweizer Uhrwerk funktionieren. Trotzdem müssen die Unternehmen gleichzeitig Innovationen aufspüren und umsetzen. Für das Supply Chain Management sind diese unterschiedlichen Anforderungen eine riesige Herausforderung und oftmals ein Spagat. Denn in einer perfekt aufgestellten Supply Chain bleibt keine Zeit mehr übrig, um Dinge auszuprobieren, deren Erfolg ungewiss ist. Andererseits brauchen Innovationen Freiheitsgrade um wachsen zu können. Penibel definierte, starre Prozesse und über Jahre optimierte Vorgaben gehören höchstwahrscheinlich nicht dazu.

Manche Organisationen können diese unterschiedliche Anforderungen mit unterschiedlichen Organisationsformen oder -instrumenten gleich gut umsetzen. Der Fachbegriff hierfür ist Ambidextrie. Neben Unternehmenskultur und Agilität erhält dieses Managementkonzept aktuell große Aufmerksamkeit. In einem interessanten Beitrag in der ZFO stellen Andreas Aulinger und Ralph Diensthuber das Konzept vor und präsentieren Umsetzungsoptionen sowie Fragestellungen, die Unternehmen bei der Implementierung helfen sollen.

In diesem Beitrag erläutere ich darauf aufbauend – mit Fokus auf Supply Chains – was genau Ambidextrie ist, welche Nutzenpotenziale es verspricht, welche Formen es gibt und wie es sich in der Praxis umsetzen lässt. Ein höchst interessantes Interview mit Kai Nowosel (CPO Accenture) zur Transformation des globalen Supply Managements von Accenture rundet den Beitrag ab.

Was ist Ambidextrie und welchen Nutzen verspricht es?

Kurz und knapp geht es bei Ambidextrie darum, wie Organisationen mit unterschiedlichen bzw. sogar konträren Anforderungen umgehen. Dabei geht es zunächst weniger um die Anforderungen an sich, denn die sind naturgemäß sehr vielfältig, sondern wie diese Anforderungen in der Organisation umgesetzt werden. Die Grundidee von Ambidextrie ist, dass es in der Organisation zwei organisatorisch unabhängige “Hände” gibt, die die Anforderungen umsetzen. Das Wort Ambidextrie kommt aus dem lateinischen und bedeutet Beidhändigkeit (ambo = beide und dextro = rechte Hand).

Exploitation

Im Kontext von Ambidextrie klassischerweise genannte unterschiedliche Anforderungen sind die bestmögliche Ausnutzung von Bestehendem (Exploitation) und Erkundung von Neuem (Exploration). Bei der Exploitation geht es darum, Kundenanforderungen zu bestehenden Produkten oder Dienstleistungen kurzfristig möglichst effizient und mit höchster Qualität zu erbringen. Der Fokus liegt dabei auf der stabilen Umsetzung von erprobten und optimierten Routinen. Ein Beispiel aus Supply Chains ist die fehlerfreie Belieferung von Automotive-OEMs mit JIT-Teilen.

Exploration

Das Ziel bei der Exploration ist hingegen neue Geschäftsmöglichkeiten durch kreative neue Produkte oder Dienstleistungen zu finden um Wachstum durch Innovationen zu generieren. Dieses Ziel lässt sich in agilen Strukturen und mit einem Mindset von Risikofreude und Experimentierfreude am besten erreichen. Rückblickend könnte man den Versand von Büchern und den Ausbau der Plattform für andere Produkte als eine sehr erfolgreiche Exploration im logistischen Kontext sehen. Aktuelle Beispiele in Supply Chains umfassen Track-und-Trace-Lösungen oder Lagerautomatisierungslösungen.

Umsetzung mit unabhängigen Organisationsformen bzw. -instrumenten

Beide Anforderungen sind allerdings oft nicht unabhängig. So kann eine stabile Abwicklung bestehender Anforderungen die Basis für eine hohe Glaubwürdigkeit bei Innovationen sein. Gleichzeitig müssen radikale Innovationen möglichst schnell in fehlerfreie Prozesse überführt werden um die Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten. Und genau hier liegt die Besonderheit von Ambidextrie, dass beide Anforderungen gleichzeitig und mit unabhängigen Organisationsformen bzw. -instrumenten erfüllt werden.

Nutzen

Nicht besonders verwunderlich ist also, dass Studien herausgefunden haben, dass Organisationen, die eine gute Balance zwischen Exploration und Exploration erzielen, auch innovativer sind, höhere Wachstumsraten aufweisen und allgemein leistungsfähiger sind.

Welche Formen von Ambidextrie gibt es?

Neben der zeitlichen Ambidextrie lassen sich die kontextuelle und strukturelle Ambidextrie unterscheiden. Darüber hinaus konkretisieren Aulinger/Diensthuber die organisationsale Umsetzung mit Organisationsformen und -instrumenten.

Zeitliche Ambidextrie

Zeitliche Ambidextrie bedeutet, dass Organisation nacheinander von der Ausrichtung auf eine Anforderung auf die Ausrichtung auf die andere Anforderung umschalten. So sollten Start-ups nach der erfolgreichen Entwicklung des innovativen Produkts oder der Dienstleistung über die Zeit in den Exploitations-Modus kommen. Nachdem ein nachhaltig stabiles Wachstum mit den bestehenden Leistungen erreicht wurde, kann eine weitere Explorationsphase neue Impulse bringen. Insofern können sich Exploitation und Exploration auch mehrmals abwechseln.

Kontextuelle Ambidextrie

Mit kontextueller Ambidextrie wird eine Situation beschrieben, in der die unterschiedlichen Anforderungen in einer gleichbleibenden Struktur umgesetzt werden. Dies kann durch eine geeignete Unternehmenskultur, ein Wertesystem oder eine Führung erreicht werden, die eine Balance zwischen den beiden Vorgaben ermöglicht. Ein Beispiel dafür ist die von Google verfolgte Regelung, dass Mitarbeiter 20% der Arbeitszeit für innovative Themen nutzen dürfen. Bei kontextueller Ambidextrie entstehen Konflikte bei der Erreichung der Vorgaben. Da das durch die Fähigkeiten und das Verhalten der Mitglieder bewältigt werden müssen, erscheint kontextuelle Ambidextrie am ehesten geeignet für forschungsintensive Organisationen oder späte Wachstumsphasen junger Unternehmen.

Struktuerelle Ambidextrie

Strukturelle Ambidextrie wird hergestellt, indem differenzierte Organisationseinheiten geschaffen werden, die die jeweils unterschiedlichen Anforderungen umsetzen. So gibt es in einer solchen Organisation Einheiten, die sich auf die Exploitation konzentrieren und stark durch formalisierte Vorgehensweisen und Standards geprägt sind. Auf der anderen Seite können andere Organisationseinheiten, wie z. B. interne Inkubatoren, Freiheiten nutzen, um Innovationen zu entwickeln.

Organisationsformen und -instrumente für die Umsetzung

Daneben schlagen Aulinger/Diensthuber grundsätzliche Organisationsformen und -instrumente zur organisationalen Umsetzung bzw. Operationalisierung der verschiedenen Anforderungen vor.

Organisationsformen

Klassische Hierarchie vs. dezentrale Organisationsformen: Die womöglich weitreichendste Ausrichtung eines Organisationsteils ist die Organisationsform. So verspricht für die Teile der Organisation, die auf Exploitation ausgerichtet sind, eine klassische hierarchische Organisationsform den größten Nutzen. Denn dabei sind Aufgaben klar zugeordnet, Ziele eindeutig formuliert und Entscheidungen durch die hierarchische Gliederung am besten koordiniert. Auf der anderen Seite sind dezentrale Organisationsform wie Holokratie besser für Innovation geeignet. Dezentrale Verantwortung ermöglicht schnelles und eigenverantwortliches Handeln.

Führungsphilosophie

Aber auch wenn keine Unterschiede in der Organisationsform existieren, kann doch die Führungsphilosophie auf die unterschiedlichen Anforderungen abgestimmt sein. In den auf Exploitation ausgerichteten Einheiten kann eine transaktionale Führung nach dem Prinzip Lohn-gegen-Arbeit sinnvoll sein. Denn klare Regeln sind die Voraussetzung für stetige hohe Qualität in der Ausführung. Für Exploration hat dagegen eine transformationale Führung Vorteile. Denn transformationale Führung möchte durch eine Veränderung der Werte und Ziele der Organisationsmitglieder eine höhere Leistung erzielen.

Prozess- vs. Projektmanagement

Prozess- vs. Projektmanagement: Während Prozess- und auch das damit eng verbundene Lean Management auf verschwendungsarme und konstant gute Prozesse abzielt, geht es bei Projekten hauptsächlich um die Erschaffung von Neuem. Deshalb ist der Instrumentenbaukasten des Prozessmanagements auf Exploitation zugeschnitten und Projektmanagement ist bei der Exploration unumgänglich. Je nach Umfeld eignet sich dabei klassisches oder agiles Projektmanagement.

Wie lassen sich ambidextre Organisationen in der Praxis umsetzen?

Die Übersicht über die Formen unterstützt eine bewusste Entscheidung, in welchen Organisationsteilen mit welchen Organisationsformen und wie tiefgreifend Ambidextrie hergestellt werden soll. Aulinger/Diensthuber geben dafür auch einige nützliche Fragen mit auf den Weg, mit denen Organisationen prüfen können, ob und wie Ambidextrie für sie sinnvoll ist.

  • Welche – auch gegensätzlichen – Anforderungen an das Unternehmen gibt es?
  • Welche Organisationseinheiten und -formen sind geeignet, um auf diese differenzierten Anforderungen gleichzeitig reagieren zu können?
  • Sollen diese Organisationseinheiten gleichzeitig und unabhängig bestehen? 
  • Auf welcher Hierarchieebene soll sich diese Differenzierung bemerkbar machen?
  • Wie sollen die restlichen Organisationseinheiten unterstützen, um die Hauptanforderungen zu erfüllen?
  • Wie werden die Mitarbeiter der Organisation den führenden Organisationseinheiten zugeordnet? Gibt es auch Mitarbeiter, die für beide abwechselnd arbeiten?
  • Wie können Organisationen sicherstellen, dass das Know-How allen Organisationseinheiten zur Verfügung steht?

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Denn Ambidextrie bringt erst dann einen Nutzen, wenn Organisationen es für sich konkretisiert haben. Und wie so oft ist gerade dieser Schritt sehr aufwändig, mit vielen Diskussionen verbunden aber sehr erkenntnis- und hilfreich um die mit Ambidextrie verbundenen Nutzenpotenziale zu heben.

Welche Beispiele organisationaler Ambidextrie gibt es?

Einige meiner anderen Beiträge enthalten gute Beispiele für Ambidextrie. Anhand dieser Beispiele möchte ich die Fragen soweit wie möglich beispielhaft beantworten und aufzeigen, welche Art ambidextrer Organisation dort vorliegt.

  • Mein Beitrag, warum Prozessmanagement auch für Start-ups und KMUs sinnvoll ist, enthält mit OneStop Pro ein Unternehmen, das als ein Teil der Beutlhauser-Gruppe gegründet wurde. Die unabhängige Organisationseinheit hat zwar mit Bausoftware ein Produkt, das eng mit den Leistungen der Mutter verknüpft ist, aber dennoch andere Marktsegmente bedient, andere Ressourcen benötigt und sich in einer anderen Wachstumsphase befindet. Insofern ist es konsequent, dass eine herstellerunabhängige, eigene Organisationseinheit geschaffen wurde. Anhand des Internetauftritts ist erkennbar, dass eine andere Unternehmens- und Führungskultur herrscht. Allerdings nutzt auch OneStop Pro wie im Interview nachlesbar auch das Instrumentarium des Prozessmanagements, wenn auch sicherlich in etwas geringerem Ausmaß. Insofern ist das ein Beispiel für eine strukturelle Ambidextrie.
  • Im Beitrag zu den Aufgaben eines Prozessmanagers ist mit der Lindy-Elektronik GmbH ein weiteres Unternehmen enthalten. Mit der Corona-Pandemie wurde das auf Großhändler und Messekunden ausgerichtete Geschäftsmodell stark bedroht. Es war eine radikale Neuausrichtung auf ein B2C-Geschäftsmodell nötig. Obwohl die Organisationsstruktur im wesentlichen gleich geblieben ist, musste die Organisation sich dennoch hauptsächlich auf den Aufbau eines B2C-geeigneten Online-Shops sowie der Neuausrichtung des Produktportfolios konzentrieren. Insofern ist das ein gutes Beispiel für eine zeitliche Ambidextrie, bei der auf geringeren Hierarchieebenen mit Task-Forces und Projekten gearbeitet wurde.

Interview Kai Nowosel, CPO Accenture

Kai Nowosel ist Chief Procurement Officer bei Accenture und dort verantwortlich für den globalen Einkauf mit etwa 1.000 Mitarbeitern. Von ihm wollte ich wissen, ob der Einkauf bei Accenture eine amidextre Organisation ist. 

Kai Nowosel ist Chief Procurement Officer bei Accenture und dort verantwortlich für den globalen Einkauf mit etwa 1.000 Mitarbeitern. Von ihm wollte ich wissen, ob der Einkauf bei Accenture eine amidextre Organisation ist.
Kai Nowosel, CPO Accenture

TL: Herr Nowosel, ich bin mir sicher, dass es auch im Einkauf bei Accenture sehr unterschiedliche Anforderungen an Ihre Organisation gibt. Denn einerseits müssen Sie ja eine stabile Infrastruktur für Ihre weltweilt über 650.000 Mitarbeiter bereitstellen, die Ihre Dienstleistung erbringen. Aber andererseits könnte ich mir vorstellen, dass Sie auch ständig auf der Suche nach neuen Lösungen sein müssen. Welchen unterschiedlichen Anforderungen sieht sich denn Ihre (Einkaufs- )Organisation konkret gegenüber? Und was waren die größten Innovationen, die Sie in den letzten Jahren eingeführt haben? 

Kai Nowosel: Vorausschickend muss ich sagen, dass das Umfeld und unser Unternehmen selbst sehr herausfordernd und komplex sind. Allein unsere weltweite Präsenz mit Büros und Landesgesellschaften birgt Herausforderungen. Aber auch unsere Geschäftsfelder müssen einkäuferisch unterschiedlich gesteuert werden. So muss unser Geschäftsbereich Outsourcing eine effiziente und kostengünstige Abwicklung sicherstellen und mit geringer Marge auskommen. Hier gilt es Innovationen mit technologischer Skalierbarkeit zu fokussieren. Die Anforderungen aus dem margen- und wachstumsstarken Geschäft mit der Digitalisierung liegen dagegen eher in der Entwicklung der besten und kreativsten Individual-Lösung für die Kunden. Und unsere Kreativagenturen haben wiederum ganz andere Anforderungen. Als weitere Dimension der Komplexität sehe ich unsere Beschaffungskategorien und damit die Beschaffungsmärkte. Insbesondere während der Pandemie hat sich die Situation in wichtigen Kategorien, wie Travel, IT und Büroflächen kurzfristig gravierend verändert. 

Für den Einkauf bedeutet das, dass wir einerseits das Tagesgeschäft möglichst effizient bewältigen müssen. Beispiele dafür sind die administrative Begleitung von mehreren Zehntausend Kontraktoren und die Abwicklung eines Spends von etwa 8 Mrd. Dollar. Andererseits verstehe ich die Rolle des Einkaufs bei Accenture auch als Value Management. Durch das Management des Partnernetzwerks werden Innovationen für die Organisation erarbeitet und verfügbar gemacht. Ein aktuelles Beispiel ist etwa die Entwicklung eines Plattformansatzes zur Gewinnung von Talenten gemeinsam mit unseren wichtigsten Eco-System Partnern, mit denen eine 360 Grad Beziehung besteht. Das kann man als lehrbuchmäßige Co-Creation oder Co-Innovation sehen. Andere Projekte laufen in unserer wichtigen Kategorie Travel mit Autovermietungen oder zur Reiseorganisation. 

TL: Wie hat sich der weltweite Einkauf von Accenture denn organisatorisch auf diese Anforderungen eingestellt? Gibt es neben dem Tagesgeschäft eine eigene Organisationseinheit, die Innovationen scoutet? Und wenn ja, wie wird sichergestellt, dass diese Einheiten tatsächlich unabhängig sind? Gibt es in dieser Organisationseinheit auch anderen Führungsstil? 

Kai Nowosel: Unser weltweiter Einkauf mit etwa 1.000 Mitarbeitern ist grob in vier Bereiche gegliedert: 

Das operative Tagesgeschäft erledigt der Bereich Sourcing & Contracting. Die Kontaktpflege zu unserem Netzwerk übernimmt der Bereich Supplier Management. Das ist für uns besonders wichtig, da wir – wie auch Studien belegen – denken, dass ein starker Zusammenhang zwischen der Beziehungsqualität und dem Entgegenkommen der Lieferanten besteht. Das Entgegenkommen kann  sich dabei in verschiedenen Dimensionen bemerkbar machen: Verfügbarkeit, Mitwirkung bei Innovationen aber auch bei Preisen. 

Für Innovationen sind die Bereiche Category Excellence und 360 Value Management zuständig. Im Category Excellence versuchen wir wesentliche Volumina in den frühen Einkaufsphasen (Stichwort Early Involvement) wie RfS (Request for Solution) und RfI (Request for Information) sowohl im Bedarf als auch in der Lösung signifikant zu verändern und zu beeinflussen. Unser Ziel ist, dass wir mindestens 30% unseres Spends so disruptiv beeinflussen. Wir sind hier auf einem sehr guten Weg. Und natürlich eignen sich manche Kategorien dafür besser als andere. So werden Innovative Lösungen bei Flügen weniger wahrscheinlich sein als bei Bürokonzepten. 

Der Bereich 360 Value Management steuert die vorhin beschriebenen Innovationsprojekte mit unseren < 50 wichtigsten Partnern. Unser Ziel ist dabei den Einkauf als Innovationstreiber im Unternehmen zu etablieren. Wir benötigen hier auch ein ganz anderes Mindset der Mitarbeiter als klassische Einkäufer: nämlich eines, das als „Business Partner“ den Mehrwert für unsere Geschäftsbereiche im Blick hat und zunächst weniger die Erzielung von Einsparungen beim Preis. Es ist besonders wichtig hier in Netzwerken und nicht in Prozessen zu denken. Hier stelle ich immer wieder erhebliche Defizite fest. Um das Bewusstsein dafür zu schaffen, stelle ich unseren Mitarbeitern dann immer die Frage, wann sie das letzte Mal unseren Geschäftsbericht gelesen haben. Daraus werden die neuesten Entwicklungen in unseren Geschäftsfeldern ersichtlich für die wir innovative Lösungen brauchen. 

Die letzten beiden Bereiche sind stärker projektorientiert organisiert während in den ersten beiden eine klassische Linienorganisation existiert. 

Die Frage wie unabhängig die Organisationseinheiten ihre Anforderungen abarbeiten können ist für uns aufgrund der hohen Komplexität eine große Herausforderung. In Bereichen, in denen wir Skaleneffekte sehen, geben wir zentral die Prozesse vor und versuchen auch soweit wie möglich zu automatisieren. Die Abrechnung von Kontraktoren ist so ein Beispiel. 

In anderen Bereichen geben wir zentral Leitplanken vor, in denen sich die dezentralen Schnellboote relativ frei und an den Marktbedingungen bewegen können. Das Thema Nachhaltigkeit oder länderspezifische Regulatorik sind Beispiele dafür. So sehen wir Notwendigkeiten globale Vorgaben des „background checks“ lokalen Richtlinien anzupassen und anzuwenden. Allerdings sind auch dann globale Vorgaben zwingend einzuhalten und werden überprüft und sind nicht verhandelbar. Ebenso beim Thema Entlohnung im Rahmen des verantwortlichen Einkaufens („responsible buying“). Auch hier verlangen wir einen Mindeststandard, der weit über gesetzliche Mindestanforderungen hinausgeht. 

Ansonsten können die zentralen Projektteams und die dezentralen Einkaufseinheiten die Umsetzung ihres eigenen Value-Ansatzes im Einkauf relativ frei gestalten. In diesem Zusammenhang gibt es auch Ansätze, in dem im Einkauf agile Teams eingesetzt werden. Ein befreundeter CPO hat hier einen sehr innovativen Ansatz gewählt, der auch als Case Study abgehandelt wurde. 

Den richtigen Mix zu finden war und ist für uns immer noch ein Lernprozess. Denn zunächst wollten wir viel mehr zentrale Vorgaben machen. Als wir dann zunehmend in das Geschäft mit kreativen Dienstleistungen eingestiegen sind, haben wir gemerkt, dass zentrale Vorgaben die Wertschöpfung der Kreativagenturen behindern. Ein plakatives Beispiel: Wenn beispielsweise gerade für das Drehen eines Werbespots perfektes Wetter ist, muss man schnell einen Fotograf engagieren und kann nicht erst auf eine Lieferantenfreigabe warten. Es ist teilweise sogar so, dass wir uns aus den dezentralen Best Practices Spill-over Effekte erhoffen. Um bei dem Schnellboot-Bild zu bleiben: Manchmal verursachen die Schnellboote so starke Wellen, dass sich dadurch das Mutterschiff bewegen lässt. 

TL: Worin bestehen aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen und Konflikte in Ihrer ambidextren Organisation? 

Kai Nowosel: Eine Herausforderung sind die Maßstäbe für die Leistungsbeurteilung. Für die projektbasiert arbeitenden Innovations-Bereiche eignen sich auch am besten die klassischen Evaluationsprozesse aus dem Consulting, die auf situativen Beurteilungen der Vorgesetzten basieren. Die prozessorientierten und dezentralen Einkaufseinheiten sind aber oft als Linien-Organisation ausgestaltet. Wenn jetzt für Innovationsprojekte Mitarbeiter aus Linien-Organisationen eingesetzt werden sollen, können Kulturkonflikte und Ängste entstehen. Denn diese Mitarbeiter sind nicht an projektorientierte Leistungsbeurteilungen und Arbeitsweisen gewöhnt. 

Eine andere wichtige Herausforderung ist, dass man die klassischen Einkaufskennzahlen nicht 1:1 auf den Value-Ansatz übertragen kann. Wenn man versucht, den Value Ansatz mit den klassischen Kennzahlen wie Einsparung oder Durchlaufzeit zu messen, sind Diskussionen oder sogar Fehlsteuerungen vorprogrammiert. In diesem Umdenken befinden wir uns gerade. Wir überlegen gerade, wie wir geeignete Performance-Kriterien definieren können, die den Value-Ansatz unterstützen. Und diese sollen dann auch optimalerweise über mehrere Geschäftsbereiche eingesetzt werden können. Ich sehe hier eine klare Notwendigkeit spezifische Balance Score Cards zu entwickeln. 

TL: Wie sieht denn die Rolle von Prozess- und Projektmanagement bei Accenture ganz allgemein aus? 

Kai Nowosel: Wie gesagt, die innovativen Bereiche werden projektbasiert gesteuert. Hier haben wir natürlich Standards. Unser Ziel für die prozessorientierten, repetitiven, abwickelnden Tätigkeiten ist dagegen die „One-Person-Organisation“. Wir wollen alle diese Tätigkeiten – auch übrigens Preisverhandlungen – soweit wie möglich automatisieren und damit Kapazitäten gewinnen, die wir dann anders einsetzen können. Tools, die wir dazu bereits heute nutzen sind RPA und Process Mining. Wir sind da auf einem guten Weg aber noch nicht am Ziel. 

TL: Herr Nowosel, ich bedanke mich ganz herzlich für das sehr interessante Gespräch! 


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